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Angriffe auf Minderheiten:Wie Racheakte Syriens Neubeginn gefährden
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Syriens religiöse Minderheiten fühlen sich so verwundbar wie nie. Für die neue Regierung sind die Massaker gegen Alawiten und der Anschlag auf eine Kirche eine Bewährungsprobe.
Die Porträts von Angela Merkel und Nelson Mandela hängen am Schaufenster seines kleinen Cafés in Baniyas an Syriens Mittelmeerküste. Jaber Aboud war unter Präsident Baschar al-Assad mehrmals im Gefängnis. Der Bundeskanzlerin verdankt er, dass seine Frau und zwei Söhne in Berlin Zuflucht fanden. Den südafrikanischen Freiheitskämpfer verehrt er, weil die Idee des gewaltlosen Widerstands und der Versöhnung für Syrien ein Vorbild sein könnte.
Im März verlor Aboud sieben Familienangehörige und etliche Freunde. Sie gehörten zu den mindestens 900 Zivilisten - alle aus der Religionsgruppe der Alawiten, aus der auch der Assad-Clan stammt - die von sunnitischen Kämpfern zuhause oder auf der Straße getötet wurden.
Angriffe und Anschläge auf Alawiten, Drusen, Christen
"Nach der Freude über den Sturz eines Diktators hatten wir keine Massenmorde erwartet. Was mich besonders wütend macht: Dass Einwohner von Baniyas beim Plündern und Morden mitmachten. Ich fühle mich seitdem wie ein Fremder im eigenen Land", sagt Aboud mit Tränen in den Augen.
Syriens religiöse Minderheiten sind so verunsichert wie noch nie. Nach den Massakern an Alawiten folgten kaum zwei Monate später Auseinandersetzungen mit drusischen Bewaffneten - und erneut Dutzende getötete Zivilisten.
Dann geschah das Bombenattentat in der griechisch-orthodoxen Mar-Elias-Kirche in Damaskus, während der Sonntagsmesse, mit 25 Toten - nach Regierungsangaben verübt von einer IS-Splittergruppe, die auch für die Vergehen an der Küste verantwortlich gewesen sein soll.
Assads ehemalige Militärs morden und schüren Gewalt
Für Christen, Alawiten oder Drusen ist das Attentat ein Angriff auf die Vielfalt Syriens, auf das ethnische Gewebe des Landes. Dass weder der Präsident noch der Innen- oder Außenminister sich in der Kirche blicken ließen, und ihr Mitgefühl nur in Telefonaten und Ansprachen äußerten, vertiefte die Gräben umso mehr.
An Syriens Küste fing alles mit einem massiven, koordinierten Aufstand ehemaliger Assad-Militärs an - nachdem diese mehr als 300 Regierungskämpfer getötet hatten, begann die Rache der Gegenseite.
Jaber Aboud berichtet von ausländischen Kämpfern in seinem Haus. Sie zündeten Häuser und Cafés an, verbrannten Leichen auf der Straße, nahmen alle Wertgegenstände mit - und schienen vor allem getrieben von religiösem Hass gegen "Alawiten-Schweine", wie sie sagten. Auch Sunniten aus den umliegenden Dörfern waren beteiligt - teils auch getrieben aus Rache an Massakern der Alawiten an ihnen, vor einem Jahrzehnt.
Tausende drusische Studierende bedroht
Im April eine weitere Eskalation: Eine mutmaßlich gefälschte Tonaufnahme tauchte auf, in der ein drusischer Geistlicher den Propheten Mohammad beleidigt haben soll. Die Drusen sind wie die Alawiten eine islamische Minderheit.
Demonstrationen gegen "Drusen-Schweine" führten daraufhin dazu, dass Tausende drusische Studenten im Land bedroht wurden, ihre Wohnheime verlassen und ihr Studium abbrechen mussten.
"Ich studierte Maschinenbau in Aleppo und war im letzten Jahr. Aber ich habe keine Hoffnung mehr, an die Uni zurückzukehren. Am liebsten würde ich ins Ausland", sagt der Druse Adnam Ghannam, der jetzt bei seinen Eltern im Süden Syriens lebt. An seinem Arm und auf der Brust sind Messerstiche erkennbar.
Funktionierende Justiz fehlt
Im Juli wird ein Untersuchungsbericht der Regierung zu den Massakern gegen Alawiten erwartet.
"Es entstand ein massives Chaos. Es gab unkontrollierte Gruppen. Und mittendrin versuchte die Regierung, ihre Kontrolle wiederzuerlangen", erklärt Noureddin Al-Baba, der Sprecher des Innenministeriums, gegenüber dem ZDF. "Am Ende konnte die Regierung durch ihre moralische Autorität - weniger als durch ihre militärische Autorität - diese Gruppen, diese Leute, überzeugen, sich zurückzuziehen."
Was fehlt, ist eine funktionierende Justiz, die alle Gruppierungen, die Verbrechen verübten, zur Rechenschaft zieht - und weitere Angriffe verhindert. Je länger sie fehlt, umso mehr gärt das Misstrauen - und umso wahrscheinlicher ist neue Gewalt.
Golineh Atai leitet das ZDF-Studio in Kairo, das auch für Syrien zuständig ist.
Quelle: dpa
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