Gerichtsbeschluss: Zurückweisungen an Grenze rechtswidrig
Berliner Verwaltungsgericht:Zurückweisungen rechtswidrig: Was der Beschluss bedeutet
von Daniel Heymann und Svenja Kantelhardt
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Die Zurückweisung von drei Somaliern war rechtswidrig, entschied das Berliner Verwaltungsgericht. Was das für die Migrationspolitik der neuen Bundesregierung bedeutet.
Dobrindt hält weiter an Zurückweisungen von Asylsuchenden fest. Wie realistisch es ist, dass er das durchsetzen kann, berichtet ZDF-Korrespondentin Britta Buchholz aus Berlin.03.06.2025 | 1:14 min
Nicht einmal einen Monat ist es her, dass Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) die Kontrollen an den deutschen Grenzen verschärfen ließ. Die wichtigste Änderung: Mit wenigen Ausnahmen sollten hier nun auch Asylsuchende zurückgewiesen werden.
Das verstößt gegen europäisches Recht, stellte heute das Verwaltungsgericht Berlin im Eilverfahren fest. Damit scheint sich zu bestätigen, worauf viele Juristen schon im Wahlkampf hingewiesen hatten: Die Forderungen nach Zurückweisungen an den Grenzen, allen voran von CDU und CSU, stehen rechtlich auf unsicheren Füßen.
Worum ging es im konkreten Fall?
Am 9. Mai wies die Bundespolizei am Bahnhof Frankfurt (Oder) die drei somalischen Antragsteller nach Polen zurück - obwohl sie ein Asylgesuch äußerten. Polen sei ein sicherer Drittstaat, begründete die Bundespolizei dies.
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Nach Ansicht des Gerichts reicht das nicht aus. Vielmehr hätten die deutschen Behörden klären müssen, welcher EU-Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig ist:
Personen, die bei Grenzkontrollen auf deutschem Staatsgebiet ein Asylgesuch äußern, dürfen nicht ohne Durchführung des Dublin-Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates für die Prüfung des Asylantrags zurückgewiesen werden.
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Verwaltungsgericht Berlin, Pressemitteilung Nr. 32/2025
Das Dublin-Verfahren regelt, dass jeder Asylbewerber nur in dem EU-Land einen Asylantrag stellen darf, das er als erstes betreten hat. So soll sichergestellt werden, dass jeder Asylantrag nur von einem EU-Mitgliedstaat geprüft wird. Die Dublin-III-Verordnung gilt seit 2014 in den EU-Mitgliedstaaten sowie in Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein.
Hält ein Mitgliedstaat einen anderen für zuständig, kann er ein Übernahme- beziehungsweise Wiederaufnahmeersuchen stellen. Stimmt dieser Staat zu, erhält der Antragsteller einen entsprechenden Bescheid. Er kann einen Eilantrag dagegen stellen, andernfalls vereinbaren die Mitgliedstaaten die Überstellung.
Wird die nicht binnen sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit an jenen Mitgliedstaat über, der um Übernahme ersucht hat. Taucht der Antragsteller unter oder befindet er sich in Strafhaft, kann sich diese Frist verlängern. In bestimmten Fällen sieht Dublin III eine Abschiebehaft vor, etwa bei ungeklärter Identität, verspäteter Antragstellung oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit.
Die Verordnung der EU in voller Länge finden Sie hier. Quelle: KNA
Um die Zurückweisungen zu rechtfertigen, hatte sich unter anderem Bundesinnenminister Dobrindt auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) berufen. Dieser Artikel, im öffentlichen Diskurs häufig als "Notlagen"-Regelung bezeichnet, erlaubt es, in bestimmten Ausnahmesituationen die europäischen Asylregeln nicht mehr anzuwenden. Das Gericht erteilte dieser Argumentation im konkreten Fall jedoch eine Absage, weil es schon an der "hinreichenden Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung" fehle.
Was bedeutet das für weitere Zurückweisungen an der Grenze?
Die Bundespolizei kann die Zurückweisungen zunächst fortsetzen, denn der Beschluss trifft nur eine vorläufige Regelung für den Fall der drei somalischen Asylsuchenden. Gleichzeitig ist klar: Die Entscheidung ist ein erster Fingerzeig, dass Gerichte die Zurückweisungen kritisch sehen. Sollten sich weitere Verwaltungsgerichte, auch aus anderen Bundesländern, ihren Berliner Kollegen anschließen, dürfte der Druck auf die Bundesregierung wachsen.
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Asylrechtsexperte Daniel Thym sieht vor allem mit Blick auf den von der Bundesregierung angeführten Artikel 72 AEUV politischen Erklärungsbedarf:
Das Fehlen einer tatsächlichen Begründung zeigt, dass die Bundespolizei die Zurückweisungen schlecht vorbereitet hat. Die Bundesregierung muss nun schnell eine solide Erklärung vorlegen, nur dann kann sie eine Kaskade solcher Anordnungen verhindern.
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Daniel Thym, Professor an der Universität Konstanz
In der Sache, so Thym weiter, habe sich das Gericht wegen der fehlenden Begründung gar nicht mit Artikel 72 AEUV auseinandergesetzt - ob das sogenannte "Notlagen"-Argument inhaltlich überzeugt, sei offen.
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Wie geht es rechtlich weiter?
Der Beschluss ist im Eilverfahren ergangen. Es ist also möglich, dass das Gericht in der Hauptsacheentscheidung zu einer anderen Bewertung gelangt. Außerdem sind andere Verwaltungsgerichte nicht an die Entscheidung aus Berlin gebunden.
Weil es in dem Fall auch um europäische Regelungen geht, hätte das Berliner Verwaltungsgericht auch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anrufen können, um die Rechtslage zu klären. Vor allem mit Blick auf Artikel 72 AEUV ist denkbar, dass Gerichte ähnliche Konstellationen künftig in Luxemburg vorlegen könnten - der EuGH könnte die Anforderungen der Ausnahmeregel dann verbindlich definieren.
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Wie wird die Entscheidung aufgenommen?
Die Organisation Pro Asyl, die die Antragsteller im Verfahren unterstützt hatte, versteht das Urteil als Handlungsaufforderung an die Politik:
Die europarechtswidrige Praxis, Asylsuchende zurückzuweisen, muss sofort beendet werden. Bundesinnenminister Dobrindt hat mit seinem nationalen Alleingang genug Leid für Schutzsuchende verursacht und außenpolitischen Schaden angerichtet.
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Karl Kopp, Geschäftsführer von Pro Asyl
Innenminister Dobrindt selbst zeigt sich dagegen wenig beeindruckt:
Wir halten (…) an den Zurückweisungen fest. Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage gegeben ist und werden deswegen weiter so verfahren, ganz unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung.
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Alexander Dobrindt (CSU), Bundesinnenminister
Die Bundesregierung hält also vorerst an ihrem neuen Kurs in der Asylpolitik fest. Eine Änderung könnte kommen, wenn die Kläger auch in der Hauptsache Recht bekommen - und weitere Gerichte der heutigen Entscheidung folgen.
Daniel Heymann und Svenja Kantelhardt arbeiten in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.