Asylzahlen unter der Lupe:Weniger Erst-, mehr Folgeanträge: Was steckt dahinter?
Erstmals seit über einem Jahrzehnt ist Deutschland nicht mehr das EU-Land mit den meisten neuen Asylanträgen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Folgeanträge seit einigen Wochen.
In der EU gab es im ersten Halbjahr deutlich weniger Asylanträge im Vergleich zum Vorjahr. In Deutschland wurden rund 70.000 Anträge gestellt - ein Minus von 43 Prozent.
08.09.2025 | 0:25 minDie Zahl der Asylanträge in Europa ist deutlich gesunken - und erstmals seit über einem Jahrzehnt ist Deutschland nicht mehr das Land mit den meisten neuen Anträgen. Nach der Halbjahresbilanz der EU-Asylagentur (EUAA) liegt die Bundesrepublik hinter Frankreich und Spanien nur noch auf Platz drei. Es wird von einer "Trendwende" gesprochen. Gleichzeitig steigen seit einigen Wochen aber die Folgeanträge auf Asyl in Deutschland stark an. Was steckt hinter dieser Entwicklung?
Wie entwickeln sich die Asylzahlen in Deutschland aktuell?
Die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland sinkt insgesamt schon seit November 2023. Im ersten Halbjahr 2025 registrierte die EUAA rund 70.000 neue Asylanträge in Deutschland - ein Minus von 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Damit liegt Deutschland erstmals seit 2012 nicht mehr an der Spitze in Europa, sondern hinter Frankreich (78.000) und Spanien (77.000).
Die Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bestätigen diesen Trend: Von Januar bis Ende August wurden in Deutschland 78.246 Erstanträge gestellt - etwa halb so viele wie im Vorjahreszeitraum.
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Doch innerhalb der Anträge gibt es auffällige Verschiebungen: Während die Zahl der Erstanträge zurückgeht, nehmen sogenannte Folgeanträge seit Juni stark zu - inzwischen machen sie mehr als die Hälfte aller Anträge aus.
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"Wir haben also einen abnehmenden Zustrom von Menschen nach Deutschland, und trotzdem eine steigende Asylzahl", sagt Victoria Rietig, Leiterin des Zentrums für Migration an der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Das liegt daran, dass viele Menschen, die schon hier sind, einen neuen Antrag stellen.
Victoria Rietig, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
Warum steigt die Zahl der Folgeanträge aktuell?
Besonders Afghaninnen nutzen derzeit diese Möglichkeit. Stellten im Januar 2025 nach Bamf-Angaben noch 112 Frauen aus Afghanistan einen Folgeantrag, stieg diese Zahl Monat für Monat - zuletzt deutlich auf 4.628 Folgeanträge im August. Ein Bamf-Sprecher geht auf ZDFheute-Nachfrage davon aus, dass sich der Trend fortsetzen wird.
Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Oktober 2024 gelten Frauen unter den Taliban offiziell als verfolgte Gruppe. Dadurch steigen die Chancen, einen Asylstatus und nicht nur subsidiären Schutz zu erhalten - ein Status, der unter anderem den Familiennachzug ermöglicht. "Für viele Frauen ist das die Chance, einen Schutzstatus höher zu rücken", so Rietig.
Warum die Zahlen ausgerechnet jetzt - fast ein Jahr nach dem Urteil - steigen? Das kann auch das Bamf nicht final beantworten, spricht aber von einer möglicherweise zeitversetzten Wahrnehmung des Urteils.
Das Bundesamt selbst habe seine Leitsätze bezüglich Afghanistan bereits im März 2023 aktualisiert, teilt der Sprecher ZDFheute mit. "Bereits seit der Machtübernahme der Taliban in 2022 hat sich die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan aus Sicht des Bamf weiter verschlechtert." Durch die Maßnahmen der Taliban würden Frauen und Mädchen dort "systematisch und institutionell unterdrückt und diskriminiert", aktuell "umfassend aus dem öffentlichen Leben verdrängt und in der Ausübung ihrer fundamentalen Menschenrechte eingeschränkt".
Medienwirksam ein Ultimatum zu verkünden, sei kein guter Stil, sagt der Vorsitzende des Innenausschusses Castellucci (SPD) zur Ankündigung von Friedrich Merz in der Asyldebatte.
06.09.2024 | 5:48 minEin weiterer Faktor sind Babys, die in Deutschland geboren werden. Rund 15 Prozent aller Erstanträge stammen nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge von Kindern unter einem Jahr. "Wenn man 20 Asylanträge vor sich hat, dann stammen drei davon von Babys", erklärt Rietig. "Das verändert den Blick darauf, wer die Asylbewerber eigentlich sind."
Diese Beispiele verdeutlichen: Die Zahl der Asylanträge ist nicht gleichzusetzen mit der Zahl der Grenzübertritte. Sie kann auch steigen, wenn kaum neue Menschen ins Land kommen - etwa durch Geburten, Folgeanträge oder auch legale Einreisen. Das betrifft beispielsweise Menschen, die mit Visum einreisen, dieses dann aber überziehen - und anschließend einen Asylantrag stellen.
Schutzsuchende aus Afghanistan dürfen derzeit nicht mehr nach Deutschland einreisen, auch wenn sie über eine Aufnahmezusage und gültige Visa verfügen.
11.04.2023Welche Rolle spielt die verschärfte Grenzpolitik?
Die Frage nach der Wirksamkeit von Grenzkontrollen spielt in der politischen Debatte dennoch eine zentrale Rolle. Im Mai hatte die Bundesregierung Zurückweisungen auch von Asylsuchenden angewiesen und dafür die Bundespolizei an den Grenzen nochmal massiv verstärkt.
Der Effekt ist laut Rietig bislang gering: Die Zahl der Zurückweisungen liegt seit Jahren bei 3.000 bis 3.500 pro Monat - auch nach Ausweitung der Kontrollen.
Wenn ich 25 Prozent mehr Leute an die Grenze stelle, aber praktisch keinen Zuwachs an Zurückweisungen habe, dann wundert mich das.
Victoria Rietig, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
Befürworter, vor allem aus der Union, verweisen dennoch auf eine mögliche Abschreckungswirkung. Rietig resümiert: "Die Debatte sollte sich langsam bewegen von der Frage, ob Grenzkontrollen rechtens sind, hin zur Frage: Sind sie eigentlich effektiv? Und da ist die Antwort bisher: kaum."
Warum haben Frankreich und Spanien nun mehr Asylanträge?
Das liegt auch daran, dass sich die Herkunftsländer verschoben haben. Nicht mehr Syrien, sondern Venezuela steht nun an der Spitze. Während 58 Prozent der syrischen Asylbewerber ihren Antrag in Deutschland gestellt haben, sind die venezolanischen Anträge fast ausschließlich (93 Prozent) in Spanien gestellt worden - auch wegen der gemeinsamen Sprache.
In Frankreich stieg unter anderem die Zahl der Antragsteller aus Haiti und der Demokratischen Republik Kongo. Französisch ist Amtssprache in Haiti und der DR Kongo.
Die USA erhöhen die Belohnung für Hinweise, die zur Festnahme von Venezuelas Präsident Maduro führen. Millionen Venezolaner suchen Zuflucht in Kolumbien.
08.08.2025 | 1:41 minDass die Asylzahlen in Europa im ersten Halbjahr insgesamt um 23 Prozent zurückgegangen sind, hat noch andere Gründe: So bremsen beispielsweise Abkommen mit Transitländern wie Tunesien oder Libyen die Migration über das Mittelmeer. Hinzu kommen zusätzliche Grenzkontrollen in Europa.
Zusammengenommen sorgt das seit rund zwei Jahren für sinkende Zugangszahlen in Europa - auch wenn die deutsche Statistik durch Zweitanträge und Neugeborene ein anderes Bild zeichnen kann.
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