27:04 min
Autark in Krisenzeiten:Könnte sich Deutschland selbst versorgen?
von Dagmar Noll
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Hätte Deutschland im Krisenfall die Möglichkeit, sich ganz ohne Lebensmittelimporte zu versorgen? Die Antwort: Im Prinzip ja. Allerdings wäre die Ernährung recht einseitig.
Lebensmittel in Deutschland - könnten wir uns selbst versorgen?
Quelle: dpa
Globalisierte Märkte machen ein pralles, saisonunabhängiges Lebensmittelangebot möglich. Doch in Zeiten von Handelsstreitigkeiten, Kriegen und politischer Instabilität stellt sich die Frage nach Abhängigkeiten. Und danach, wie es um die Selbstversorgungssicherheit in Deutschland steht.
Wie gut ein Land sich autark ernähren kann, zeigt der Selbstversorgungsgrad an. Er errechnet sich aus dem Verhältnis von Eigenerzeugung zu Verbrauch. Laut Bundesinformationszentrum Landwirtschaft liegt der Selbstversorgungsgrad für Lebensmittel in Deutschland bei etwa 82 Prozent. Würde man vom jetzigen Konsum ausgehen, gäbe es also im Krisenfall nicht wirklich genug Lebensmittel für alle. Außerdem schwankt der Selbstversorgungsgrad von Produkt zu Produkt sehr stark.
Überversorgung bei einigen Produkten
Eine Überversorgung hat Deutschland nach diesem Index bei
- Schweinefleisch (135 Prozent),
- Getreide (104 Prozent),
- Kartoffeln (153 Prozent),
- Zucker (155 Prozent) und
- Milch (107 Prozent).
Viele dieser Produkte werden subventioniert und deshalb bevorzugt angebaut.
Ein Schwein besteht nicht nur aus Schnitzel
Trotz der Überproduktion importiert Deutschland allerdings jährlich noch etwa 942.000 Tonnen Schweinefleisch. Denn von dem, was wir gerne essen, nämlich Schnitzel, Kotelett und Schinken, haben wir zu wenig. Deswegen importieren wir diese Fleischstücke. Innereien, Füße und Schwänze hingegen exportieren wir zum Beispiel in den asiatischen Raum, wo sie als Delikatesse gelten.
In Deutschland gibt es rund 255.000 landwirtschaftliche Betriebe. Laut Bundesinformationszentrum Landwirtschaft sind das zwar fast 45 Prozent weniger Betriebe als zur Jahrtausendwende. Die landwirtschaftlich betriebene Fläche jedoch hat sich kaum verringert, die Betriebe bewirtschaften lediglich mehr Hektar. 2023 zum Beispiel im Schnitt 65 Hektar. Im Jahr 2000 waren es noch ungefähr 37 Hektar. Ein Landwirt oder eine Landwirtin ernährt heute im Schnitt etwa 147 Menschen.
Obst und Gemüse sind Stiefkinder
Beim Obst wird nur ein Fünftel des Bedarfs aus heimischem Anbau gedeckt. Obwohl in Deutschland viele Obstsorten gut gedeihen, importiert Deutschland zum Beispiel 50 Prozent der konsumierten Äpfel. Beim Gemüse ganz ähnlich: Mit Ausnahme von Rot- und Weißkohl produziert Deutschland etwa so viel, dass 37 Prozent der Konsumenten und Konsumentinnen versorgt werden können.
Durch großflächigeren Anbau und günstigere Produktionsbedingungen sind viele Obst- und Gemüsesorten im Import tatsächlich preiswerter als aus dem heimischen Anbau. Dazu kommt unser Konsumverhalten: Wird ganzjährig eine große Sortenvielfalt nachgefragt, bestimmt diese Nachfrage das Angebot.
Klimawandel als Risikofaktor
Druck entsteht durch den Klimawandel, durch extreme Wetterlagen wie Trockenheit und Überschwemmungen. Die Gefahr für Missernten wächst und Schädlinge breiten sich aus. Das bedroht auch die bisher sehr stabile Kartoffelernte, zum Beispiel durch die Schilf-Glasflügelzikade. Ein Fluginsekt, dessen Nachkommen im Boden überwintern und sich von Pflanzenteilen ernähren. Dabei übertragen sie ein Bakterium, das die Pflanze zerstört.
Bereits seit 2008 ist die Zikade als Schädling an Zuckerrübenpflanzen bekannt. Seit 2021 befällt sie vermehrt Kartoffeln, zunehmend auch Kohl, Zwiebeln und Wurzelgemüse wie Rote Bete. Nachhaltig hilft gegen den Befall der Zikade nur eine sinnvolle Fruchtfolge und am besten eine vegetationsfreie Zeit im Winter.
Zusatzfaktoren einrechnen
Die Frage, ob Deutschland sich im Krisenfall autark versorgen könnte, hängt natürlich nicht nur von den heimisch produzierten Lebensmitteln ab. Damit es gute Ernten gibt, die Kuh viel Milch und das Schwein gutes Fleisch liefert, braucht es landwirtschaftliche Nebenprodukte. Sie sind Teil einer Warenkette, die importiert werden muss.
Dazu zählen etwa Futtermittel, Insektizide oder auch Maschinenteile. Salopp gesagt: Müsste Deutschland sich autark versorgen, würde Nackensteak mit Pommes und Weißkrautsalat kurzfristig wohl immer gehen. Eine ausgewogene Ernährung wäre im Krisenfall jedoch ohne Lebensmittelimporte wohl nicht möglich.
Dagmar Noll ist Redakteurin im ZDF-Team Wirtschaft & Finanzen.
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