Contergan-Urteil: Neue Hoffnung für Opfer

Bundesverwaltungsgericht:Neue Hoffnung für Contergan-Opfer

Christoph Schneider
von Christoph Schneider
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Der Fall eines 63-Jährigen geht nochmal zurück in die Conterganstiftung – ein Erfolg. Die muss nun viel umfassender prüfen als bisher, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht.

Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan in einer Vitrine.
Ein Contergan-Betroffener klagte auf Entschädigung – Das Bundesverwaltungsgericht hat nun entschieden, sein Contergan-Fall muss neu geprüft werden.09.07.2025 | 1:18 min
Als der Vorsitzende Richter des 5. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, Rainer Störmer, um kurz vor 16:30 Uhr die kurze Begründung des Urteils schließt, hat Karin Buder Freudentränen in den Augen. Sie ist die Anwältin des Klägers Thomas K., der nach 14 Jahren jetzt eine neue Chance bekommt, als Contergangeschädigter anerkannt zu werden.

Es ist der Fall meines Lebens, diese Entscheidung bedeutet so viel meinen Mandanten.

Karin Buder, Anwältin

Da ist Thomas K. nicht mehr in Leipzig - die Ungewissheit, wann am Nachmittag das Urteil fallen würde, ist für ihn zu groß, so dass er bereits am Mittag die Heimreise antritt.
Am Vormittag verfolgt Thomas K. an der Seite seiner Anwältin die knapp zweistündige Verhandlung, meldet sich auch einmal vor den fünf Richterinnen und Richter zu Wort. Eigentlich unüblich in Revisionsverfahren, aber auch nicht unpassend.

Wenn der Kläger schon in Person da ist, dann können wir ihm auch das Wort geben.

Rainer Störmer, Richter

Contergan
Als Contergan-Geschädigter kämpft ein 63-jähriger Mann seit 14 Jahren um Anerkennung und Entschädigung. 09.07.2025 | 1:21 min

Contergan-Kläger ergreift selbst das Wort

K. berichtet sachlich über seinen Kampf mit der Stiftung um die Gewährung von gesetzlich festgelegten Leistungen.
Persönlich angeschaut hat die Stiftung ihn in all den langen Jahren seines Verfahrens nicht einmal. Allein die Atteste und Gutachten reichten für die Conterganstiftung aus, um festzustellen, dass er kein Contergangeschädigter sei.
Trotz vorgelegter Arztberichte, Sachverständigenberichte, die belegen sollten, dass verschiedene Fehlbildungen auf das Medikament Contergan zurückzuführen sind. Seine verstorbene Mutter hatte während der Schwangerschaft das Medikament eingenommen.
Symbolbild: Mann in weißem Arztkittel und Stethoskop hält OXN-Tablette in der Hand
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Fall des Klägers - Conterganstiftung muss nochmal ran

Das Bundesverwaltungsgericht stellt nun heraus, dass es klare gesetzliche Regelungen gibt, die im Conterganstiftungsgesetz niedergeschrieben sind. Danach soll bei behaupteten Conterganschäden eine Kommission aus medizinischen Sachverständigen verschiedener Fachbereiche, insgesamt 21, sowie dem Vorsitzenden der Kommission gemeinsam über den Fall entscheiden.
Doch das wurde so im Fall des Klägers nicht gemacht. Nach einer Geschäftsordnung entschied der Vorsitzende der medizinischen Kommission alleine, welche ärztlichen Stellungnahmen eingeholt werden sollten.
Als die vorlagen, gab der Vorsitzende eine schriftliche Empfehlung für den Stiftungsvorstand ab, der dann entschied. Am Ende waren so mit dem Fall von Thomas K. lediglich acht Mitglieder der Kommission befasst, nicht aber die gesamten 22 Kommissionsmitglieder.
Wie schon die vorherige Instanz, das Oberverwaltungsgericht Münster, feststellte, ist das rechtsfehlerhaft und rechtfertigt eine neue Bescheidung, so jetzt auch das Bundesverwaltungsgericht. Diese "kollegiale Entscheidungsfindung der Kommission unter Beteiligung aller Mitglieder" kann auch nicht ersetzt werden.

Die Entscheidung des mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Gremiums soll eine höhere Richtigkeit und Akzeptanz gewährleisten, um weitere Streitfälle und unnötige Prozesse zu vermeiden.

Rainer Störmer, Richter

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Zur Pharmaindustrie kursieren viele dunkle Geschichten über Geldgier, die über Leichen geht. Mai trennt Fake News von Fakten und zeigt, wo die echten Gefahren der Branche liegen.02.03.2025 | 30:43 min

Beweismaßstab bleibt hoch

Der Beweismaßstab allerdings für die Anerkennung der Conterganschäden, den das Oberverwaltungsgericht gerne gesenkt hätte, findet nicht die Zustimmung des Bundesverwaltungsgerichts.
Vielmehr müsse bei mehreren in Betracht kommenden Ursachen der Fehlbildung die Einnahme von Contergan und seinem Wirkstoff Thalidomid in Relation zu anderen Ursachen trotz bestehender Zweifel "die wahrscheinlichste Ursache für die Fehlbildungen" sein, so der 5. Senat.
Anwältin Karin Buder kann das verschmerzen.

Entscheidend ist, dass mein Mandant eine neue Chance der Anerkennung bekommt, über die die gesamte Kommission zu befinden hat, und da bin ich sehr zuversichtlich.

Karin Buder, Anwältin

Contergan-Verfahren werden wieder aufgenommen

Viele aktuell ruhende Verfahren - wegen des seit zwei Jahren ausstehenden Urteils - werden jetzt aber wieder aufgenommen - unter der Maßgabe dieser höchstrichterlichen Entscheidung.
Montage: Im Zentrum ein Steinzeitmensch, dazu Sinnbilder aus den Themenfeldern Atomkraft, Contergan und Finanzkrise.
Forschung ist ein mühsames Geschäft. Der Weg zu neuen Erkenntnissen oft steinig. So werden Erfolge besonders gefeiert und Irrtümer gerne geschönt oder gar vertuscht.02.03.2022 | 43:31 min
Viel Arbeit für die Conterganstiftung, die sich vielleicht auch noch manches schon erledigt geglaubte Verfahren "in kleiner Besetzung" nochmal mit allen Kommissionsmitgliedern wird anschauen müssen. Denn unter engen Grenzen können solche Verfahren auch nochmal aufgerollt werden.

Contergan-Packungen
Quelle: ZDF

Contergan steht für einen der größten Medizinskandale der alten Bundesrepublik. Die Conterganstiftung des Bundes schätzt, dass weltweit rund 10.000 Kinder mit Fehlbildungen geboren wurden, die auf Thalidomid, den Wirkstoff von Contergan, zurückzuführen sind. Etwa die Hälfte von ihnen verstarb bei oder kurz nach der Geburt.

1957 kam Contergan als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt, rezeptfrei und frei verkäuflich, hergestellt von der Firma Grünenthal aus Stolberg bei Aachen.

Mit über 310 Millionen ausgegebenen Tagesdosen war Contergan zwischen 1957 und 1961 eines der beliebtesten Schlafmittel der alten Bundesrepublik. Da es auch gegen Schwangerschaftsübelkeit wirken sollte, als besonders sanft beworben wurde, nahmen es auch Tausende Schwangere ein.

Zwei Jahre nach Markteinführung kristallisierte sich heraus, dass der enthaltene Wirkstoff Thalidomid die Entwicklung der Kinder im Mutterleib stört - später wurde Thalidomid als fruchtschädigend beurteilt. Der Hersteller Grünenthal wies alle Vorwürfe zurück.

Hierzu merkt Grünenthal Pharma an: "Die Einnahme von Contergan während der Schwangerschaft wurde erst 1961 als Ursache für Fehlbildungen vermutet. Die Ärzte Widukind Lenz und William McBride haben maßgeblich dazu beigetragen, die teratogene Wirkung von Thalidomid, die die Entwicklung ungeborener Kinder beeinträchtigt, aufzuklären. Grünenthal nahm Contergan am 27. November 1961 vom Markt, nachdem Widukind Lenz das Unternehmen am 15. November 1961 erstmals über seinen Verdacht informiert hatte.

1959, zwei Jahre nach Markteinführung, erhielt Grünenthal zunächst vereinzelte Berichte von Ärzten über mögliche Nervenschädigungen an Patienten, die mit Contergan behandelt wurden. Diese Verdachtsfälle vermehrten sich und führten dazu, dass Grünenthal Warnhinweise über Nebenwirkungen in die Packungsbeilage aufnahm und schließlich die Rezeptpflicht für Contergan beantragte. Es besteht jedoch kein Zusammenhang zu der fruchtschädigenden Wirkung von Thalidomid, die später festgestellt wurde."

1970 erklärte sich der Hersteller Grünenthal zu einem Vergleich vor Gericht bereit, 100 Millionen Mark in eine "Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder" einzuzahlen - eine Vorläuferin der heutigen Conterganstiftung.

Christoph Schneider ist Redakteur in der ZDF-Fachredaktion Recht & Justiz