Tablettensucht: Versagen Behörden bei Medikamenten-Kontrollen?

Tablettenmissbrauch:Versagen Behörden bei Medikamenten-Kontrolle?

von Maria Christoph und Maximilian Hübner
|

Das Schmerzmittel Tramadol kann süchtig machen, fällt aber nicht unter die Betäubungsmittel. ZDF frontal über Betroffene, die bisher vergeblich für strengere Regeln kämpfen.

Grabstein in Herzform von Marco mit der Aufschrift:
Tramadol zählt zu den am häufigsten verschriebenen Opioid-Schmerzmitteln. Das Medikament kann Leben kosten - wie das von Marco.17.06.2025 | 9:04 min
Tanja Albroscheit hat ihren Sohn verloren. Marco stirbt im Frühsommer 2022 laut rechtsmedizinischen Gutachten an einer Überdosis Tramadol - einem opioidhaltigen Schmerzmittel.
Marco wird nur 23 Jahre alt. "Wenn jemand sagt, dein Sohn ist tot, da denke ich immer: Sprich das doch nicht aus. Das kann nicht sein." Seitdem kämpft die Mutter für eine strengere Kontrolle starker Medikamente.
Frau sitzt auf einer Bank im Grünem mit Blick auf eine Grabstelle.
Tanja Albroscheit will andere Eltern warnen und das Bewusstsein für den Missbrauch von Schmerz- und Beruhigungsmitteln schärfen.26.06.2023 | 4:59 min

"Es ist Ihre Aufgabe, Menschen zu schützen"

Gemeinsam mit anderen Betroffenen hat Tanja Albroscheit eine Petition gestartet. Das Schmerzmittel Tramadol müsse als Betäubungsmittel (BTM) gelistet werden. Reportern von ZDF und "Spiegel" sagt sie:

Wir wollen, dass sich was verändert und dass der Tod unserer Kinder nicht umsonst war.

Tanja Albroscheit, Mutter von Marco

Denn Tramadol fällt als einziges Opioid-Schmerzmittel ausnahmslos nicht unter das Betäubungsmittelgesetz, ist also weniger stark reguliert als andere Opioide wie Fentanyl oder Oxycodon.
Für Marcos Mutter bleibt es schwer zu verstehen, warum ihr Sohn sterben musste. Bei ihrer Suche nach Antworten stößt sie auf das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Das überwacht in Deutschland Medikamente wie Tramadol. Am 21. Januar 2024 schreibt sie der Behörde: "Es ist Ihre Aufgabe, Menschen zu schützen und nicht in den Tod oder die Abhängigkeit zu bringen."
Screenshot aus Frontal: Drei Gründe, warum Deutschland ein Opioid-Problem hat. Tanja auf dem Friedhof
Sooft es geht, besucht Tanja Albroscheit das Grab ihres Sohnes Marco.
Quelle: ZDF

Forscher: "Vieles spielt sich im Verborgenen ab"

Entwickelt wurde Tramadol vom Aachener Pharmariesen Grünenthal. Das Medikament zählt zu den am meisten verordneten Schmerzmitteln in Deutschland. Allein 2023 haben Ärzte Tramadol 2,5 Millionen verschrieben. Einigen Experten gilt das Medikament als Einstieg in die Drogensucht.
Laut einer Studie vom Januar 2025 steigt die Zahl junger Erwachsener, "deren Konsummuster häufig mit Tilidin und Tramadol beginnt, sich schrittweise auf stärkere Substanzen wie Oxycodon ausweitet und in einigen Fällen schließlich in den Konsum von Heroin mündet."

Entwickelt wurde das synthetische Opioid-Schmerzmittel Tramadol 1962 von Grünenthal, während das Unternehmen durch den Contergan-Skandal unter Druck stand. Unter dem Namen "Tramal" kam der Wirkstoff 1977 auf den Markt. Es sollte bei mäßig starken bis starken Schmerzen eingesetzt werden.

Obwohl eine Suchtgefahr inzwischen als erwiesen gilt, fällt es in Deutschland nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Grünenthal ist heute einer der führenden Schmerzmittelproduzenten der Welt – auch dank Tramadol. 2024 verzeichnet das Unternehmen einen Rekordumsatz von 1,8 Milliarden Euro.

Medikamentenabhängigkeit sei in Deutschland zu wenig erforscht, sagt der Suchtforscher Bernd Werse:

Es gibt Schätzungen dazu, die von Hunderttausenden bis in die Millionen gehen, aber Vieles spielt sich einfach im Verborgenen ab.

Bernd Werse, Suchtforscher

In einer Studie der Goethe-Universität Frankfurt wurden mehr als 1.100 Menschen zwischen 14 und 30 Jahren befragt, die schon einmal Drogen genommen haben. Ergebnis: Mehr als die Hälfte gab an, schon mal opioidhaltige Schmerzmedikamente oder Beruhigungsmittel konsumiert zu haben. Die Suchtgefahr würde oft unterschätzt, sagt Werse.
Notfallsaniäter Tobi Schlegl mit verschränkten Armen vor alter Lagerhalle
Wie gefährlich sind Codein, Tilidin und Fentanyl? Wie schnell wird man Opfer eine Überdosis? Reporter Tobi Schlegl berichtet.19.04.2023 | 9:12 min

Der Fall Iris S.: Apotheker als Dealer?

Auch Iris S., ehemalige stellvertretende Leiterin einer Frankfurter Privatbank, wurde abhängig von einem Opioid-Schmerzmittel. Seit Jahren litt die Bankerin an Migräne, probierte alle möglichen Tabletten aus und bekam am Ende das Opioid Tilidin verschrieben.
Als ihre Ärztin ihr 2014 keine weiteren Rezepte mehr ausstellt, versucht es die Bankerin ohne eines bei einer Apotheke. Der Leiter der Apotheke verkauft ihr das verschreibungspflichtige Medikament.
Eine unheilvolle Geschäftsbeziehung entsteht. Am Ende nimmt S. bis zu 30 Tabletten am Tag, darunter außerdem Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie Tramadol-Tropfen. Ein Medikamentencocktail, der sie fast umbringt.

Gesundheit der Klägerin "in erheblichem Maße geschädigt"

Der Apotheker behauptet hingegen, Iris S. habe die Medikamente weiterverkauft. Er bezweifle, dass eine Frau überhaupt so viele Tabletten nehmen könne, sagte er gegenüber "Spiegel" und ZDF. Im Gespräch bestreitet er jedes Fehlverhalten.
Der Fall ist mittlerweile gerichtlich dokumentiert, es laufen mehrere Prozesse. Im erstinstanzlichen Urteil der Zivilkammer heißt es: "Durch die unrechtmäßige Medikamentenabgabe hat der Beklagte die Gesundheit der Klägerin in erheblichem Maße geschädigt." Doch die Apotheke bleibt weiterhin geöffnet, der Apotheker behält seine Betriebserlaubnis.
Symbolbild: Mann in weißem Arztkittel und Stethoskop hält OXN-Tablette in der Hand
Droht auch hierzulande eine Opioid-Krise? Und welche Rolle spielt dabei die US-Familie Sackler? Denn ihre Geschäfte reichen bis nach Deutschland. 17.09.2024 | 44:25 min

BTM-Rezepte gelten als schwerer fälschbar

Keines der Medikamente, die S. konsumiert hatte, fiel unter die strengen Regularien des Betäubungsmittelgesetzes. Laut Experten würde eine sogenannte BTM-Rezeptpflicht illegalen Handel und Missbrauch erschweren. Daher ist auch Iris S. für eine strengere Regulierung von Medikamenten wie Tramadol.

Als ehemalige Konsumentin kann ich nicht verstehen, warum Tramadol nicht unter die Betäubungsmittel fällt.

Iris S.

Auf Nachfrage, warum Tramadol bis heute nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, verweisen Bundesgesundheitsministerium und BfArM auf die Einschätzung eines Sachverständigenausschusses zu Tramadol aus dem Jahr 2011. Damals stimmte dieser einstimmig gegen eine schärfere Regulierung. Die Begründung: "Eine körperliche Abhängigkeit tritt nur selten auf."

2009 häufen sich Berichte über gefälschte Rezepte für Opioide, die nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Der Leiter der Bundesopiumstelle setzte "aufgrund von Anfragen ärztlicher Personen" zwei bislang unkontrollierte Opioide auf die Tagesordnung des Sachverständigenausschusses für Betäubungsmittel: Tramadol und Tilidin. Die Herstellerfirma Grünenthal warnte, eine strengere Regulierung könnte eine falsche "weltweit fatale Signalwirkung" haben.

Eine Arbeitsgruppe sollte daraufhin zunächst Daten zu Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial auswerten. Recherchen von Spiegel und ZDF zeigen: Unter den zwölf Personen im Ausschuss waren drei Industrievertreter, eine frühere Grünenthal-Managerin und ein ehemaliger Grünenthal-Stiftungsprofessor.

Das Gesundheitsministerium entschied 2011 auf Empfehlung des Ausschusses, dass Tramadol weiterhin nicht unter die Betäubungsmittel fallen und auf normalem Rezept erhältlich sein sollte. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bestreitet, dass es Interessenkonflikte gegeben habe, "die eine Mitarbeit in der Arbeitsgruppe ausgeschlossen hätten". Die Firma Grünenthal teilte auf Nachfrage mit, es gebe keinen Zusammenhang zwischen der Ausschussentscheidung und dem Verschreibungsverhalten von Ärzten. Außerdem gehe der Anteil an Opioiden im Produktportfolio des Konzerns deutlich zurück.

Kritik aus der Politik und Einfluss der Industrie

Janosch Dahmen, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, hält den Einfluss der Industrie in solchen Bewertungsgremien für "hochgefährlich":

Ich kann rückblickend nicht verstehen, wie der Expertenrat damals zu einer solchen Entscheidung gekommen ist.

Janosch Dahmen, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag

frontal
Quelle: ZDF

Mehr Recherchen des Investigativformats frontal sehen Sie dienstags um 21:15 Uhr im ZDF-Programm im TV und jederzeit abrufbar in der Streamingplattform des ZDF.

Die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU, Simone Borchardt, stellt eine erneute Überprüfung von Tramadol in Aussicht. Mit Blick auf eine mögliche BTM-Pflicht sagte Borchardt zu ZDF frontal: "Wenn dann die Prüfung so ausfällt, dass das dann mit reinfällt, dann werden wir es natürlich machen".
Grünenthal teilte auf Anfrage mit, "es ist unbestritten, dass Tramadol abhängig machen kann, wenngleich sich das Abhängigkeitspotenzial von dem der starken Opioide unterscheidet." Es solle daher nur "unter strenger ärztlicher Kontrolle" angewendet werden. Außerdem forsche das Unternehmen an Schmerzmitteln, die keine Opioide enthalten.

Symbolbild: Mann in weißem Arztkittel und Stethoskop hält OXN-Tablette in der Hand
17.09.2024 | 44:25 min
Für das Projekt "World of Pain" recherchierte das ZDF gemeinsam mit SPIEGEL, der auf Gesundheitsthemen spezialisierten Rechercheplattform The Examination und internationalen Medien zum globalen Geschäft mit dem Schmerz. Der erste Teil des Projekts erschien im September 2024. Damals untersuchten ZDF, "Spiegel", die "Washington Post" und andere, wie die US-Familie Sackler mit dem Schmerzmittel Oxycodon in Deutschland und Europa Millionen verdient, während ihre Firma Purdue Pharma als Mitverursacher der Opioid-Krise in den USA gilt.

Mehr über Medikamente, Drogen und Sucht