Nach Erdbeben in Afghanistan:Afghanistan: "Frauen und Kinder sind Hauptopfer"
Zerstörte Dörfer, abgeschnittene Regionen und kaum medizinische Versorgung: Christina Ihle vom Afghanischen Frauenverein beschreibt, wie dramatisch die Lage in Kunar ist.
Nach dem schweren Erdbeben mit mehr als 1.400 Toten schwindet in Afghanistan die Hoffnung, noch Überlebende in den Trümmern zu finden.
Quelle: Afghanischer Frauenverein HamburgNoch immer sind viele Dörfer nach dem Erdbeben in der afghanischen Region Kunar unerreichbar, die Zahl der Opfer steigt täglich: Mehr als 1.400 Tote und über 3.500 Verletzte hat die Katastrophe bereits gefordert. Im Gespräch mit ZDFheute schildert Christina Ihle, Geschäftsführerin des Afghanischen Frauenvereins in Hamburg, wie ihr Team versucht, trotz zerstörter Infrastruktur und fehlender internationaler Unterstützung Hilfe zu leisten - und warum Frauen und Kinder besonders gefährdet sind.
ZDFheute: Frau Ihle, Sie sind im engen Kontakt mit Kollegen vor Ort. Können die das Ausmaß der Katastrophe schon überblicken?
Christina Ihle: Tatsächlich noch nicht. Es gibt immer noch Dörfer, die überhaupt nicht erreichbar sind. Erdrutsche haben den Zugang erschwert, es gibt Nachbeben. Was wir aber sehen, ist, dass das Ausmaß viel größer ist als befürchtet. Die UNO spricht von 100.000 betroffenen Menschen. Mit jedem Dorf, das neu begangen werden kann, steigen die Todeszahlen, die Verletztenzahlen. Im Moment sind wir bei 1.400 Toten, bei über 3.500 Verletzten, bei 5.400 registrierten zerstörten Häusern.
Das ist eine Region, wo die Menschen so unendlich arm sind, wirklich ganz einfache Lehmhäuser haben und keinerlei Möglichkeiten, da selber wieder etwas aufzubauen.
Christina Ihle, Afghanischer Frauenverein Hamburg
Nach der Erdbebenkatastrophe im Osten Afghanistan erschüttern Nachbeben die Region. Die komplizierten Rettungsarbeiten dauern an. Die EU hat Unterstützung angekündigt.
03.09.2025 | 1:36 minZDFheute: Welche Möglichkeiten haben Sie, unter diesen Umständen zu helfen?
Ihle: Wir haben ein Team vor Ort, weil wir eigentlich Wasserprojekte in der Region haben für 12.000 Menschen. Und dieses Team ist direkt nach dem Beben nach Kunar gereist, in die am schwersten betroffene Region. Unser Team wollte heute schon erste Garküchen und Kochutensilien in betroffene Dörfer bringen. Aber das schaffen sie nicht so schnell.
... ist seit 2021 Geschäftsführerin des Afghanischen Frauenvereins in Hamburg. Zuvor arbeitete sie 18 Jahre lang bei CARE Deutschland in der Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit, unter anderem als Pressesprecherin und im Projektmanagement. Die studierte Romanistin und Germanistin verantwortet beim Afghanischen Frauenverein heute über 200 lokale Mitarbeitende und Hilfsprojekte, die jährlich mehr als 200.000 Menschen in Afghanistan erreichen.
Die Straßen sind alle dicht, wir kommen nicht in diese Dörfer rein. Viele Dörfer haben sie gestern zu Fuß besuchen müssen, um dort Hilfsgüter hinzubringen. Es gibt kaum schweres Gerät. Es gibt drei Hubschrauber von der Regierung und 35 Ambulanzwagen, die Verletzte in die nächsten Städte und Krankenhäuser transportieren. Bei diesem Ausmaß der Katastrophe leider wirklich ein Tropfen auf dem heißen Stein.
ZDFheute: Nach der Machtübernahme der Taliban sind internationale Hilfen stark zurückgegangen. Anfang des Jahres haben die USA fast alle Hilfsprogramme gestoppt. Wie macht sich das bei dieser Katastrophe bemerkbar?
Ihle: Die USA haben über die Hälfte der humanitären Hilfe in Afghanistan ermöglicht. Und das plötzliche Wegbrechen hat die Infrastrukturen wahnsinnig reduziert, vor allem im Gesundheitsbereich. 420 Kliniken mussten schließen und auch 300 Ernährungszentren für mangel- und unterernährte Kinder. Über 80.000 Menschen waren dann über Nacht ohne diese Hilfe. Und das merken wir natürlich jetzt.
Quelle: ZDF
Die Krankenhäuser und die medizinischen Versorgungsinstitutionen in der Umgebung sind komplett überfordert. Die Medikamente sind ausgegangen und werden jetzt angefordert. Und die ganze Basisstruktur ist so durchgeschüttelt durch den Rückgang der internationalen Hilfen, dass so eine Katastrophe jetzt on top gar nicht aufgefangen werden kann.
Nach dem schweren Erdbeben in Afghanistan gestalten sich die Rettungsarbeiten schwierig. Inzwischen gibt es mehr als 900 Tote - weitere werden unter den Trümmern vermutet.
02.09.2025 | 1:20 minZDFheute: Wirkt sich diese Katastrophe auf Frauen und Mädchen anders aus als auf Männer?
Ihle: Unsere Kollegen berichten, dass vor allem Kinder und Frauen unter den Trümmern begraben sind. Also oft Männer einfach auch mehr Kraft haben, sich aus dem Schutt zu befreien und dadurch eben einfach im Moment eine bessere Überlebenschance haben. Frauen und gerade Kinder können sich kaum selber befreien und das macht sie im Moment zu den Hauptopfern. Natürlich ist ein Problem, dass wir auch als Helfende nur sehr reduziert Frauen einsetzen können. Es gab ein Arbeitsverbot für Frauen in NGOs, was aufgehoben wurde für den medizinischen Bereich und den Bildungsbereich.
Auch wir haben ja Mutter-Kind-Kliniken. Es ist wirklich schwer, gute Ärztinnen zu finden, die dann auch in solche Regionen reisen dürfen. Sie werden aber dringend gebraucht, auch um die vielen Frauen medizinisch zu behandeln und herauszufinden, was sie brauchen. Denn Frauen haben ganz andere Bedarfe als Männer, haben ganz andere Hygiene- und auch Schutzbedürfnisse in solchen großen Katastrophen als Männer. Das wird oft nicht bedacht, wenn nur Männer Hilfe planen.
Das gestrige Erdbeben in Afghanistan ist eines der schwersten der letzten Jahrzehnte. Die Opferzahlen steigen weiter an, die Rettungsarbeiten sind schwierig.
02.09.2025 | 1:35 minZDFheute: Ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort sprechen mit den Betroffenen. Was hören sie von ihnen?
Ihle: Die Menschen sind wirklich hochtraumatisiert und komplett unter Schock. Und das Ausmaß der Verluste ist nicht zu erfassen, für niemanden. Auch für unsere Kollegen ist das wahnsinnig schwer, diese Gespräche zu führen. Sie haben gestern mit einem Mann gesprochen, der 17 Angehörige unter den Trümmern zu seinen Füßen hat.
Die Kollegen haben gefragt, was braucht ihr, was ist jetzt das Wichtigste für euch? Und er sagte: 'Ich will überhaupt keine Hilfe. Das Einzige, um das ich euch bitte, ist mir zu helfen, die Körper meiner Familienmitglieder aus diesen Trümmern zu holen, damit ich sie würdevoll beerdigen kann.'
Das Interview führte Homeira Rhein.
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von Nils Metzger - mit Video