Kinder in Deutschland: Soziologe fordert Engagement von Älteren
Interview
Soziologe für mehr Engagement:El-Mafaalani: "Kinder werden übersehen"
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Deutschland ist eine alternde Gesellschaft. Kinder sind eine Minderheit, für die sich vor allem Senioren engagieren sollten, fordert der Soziologe Aladin El-Mafaalani im Interview.
Für Kinder gebe es in vielen Bereichen "besorgniserregende Befunde", sagt der Soziologe El-Mafaalini. (Symbolbild)
Quelle: ddp
ZDFheute: Was ist die größte Herausforderung für Kinder in Deutschland aktuell?
Aladin El-Mafaalani: Sie wachsen in einer alternden Gesellschaft auf. Wir haben doppelt so viele 60-Jährige wie Sechsjährige. Kinder sind in der Minderheit. Eine Minderheit, die nachweislich in ganz vielen Bereichen besorgniserregende Befunde aufweist.
Die Bildungsstudien zeigen seit ungefähr zehn Jahren einen negativen Trend. Die Gesundheitsdaten der Kinder und Jugendlichen, besonders hinsichtlich mentaler Gesundheit, haben sich verschlechtert.
Das Armutsrisiko ist besonders hoch. Es gibt viele problematische Entwicklungen.
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Aladin El-Mafaalani, Soziologe
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ZDFheute: Aber nicht alle Kinder wachsen unter den gleichen Umständen auf.
Aladin El-Mafaalani: Nein, ganz im Gegenteil. Kinder sind zahlenmäßig eine kleine Gruppe, die jedoch so vielfältig ist wie keine andere Altersgruppe in Bezug auf die sozialen Verhältnisse, die ökonomischen Verhältnisse, die Pluralisierung der Familien oder auch auf Migration. Kinder haben ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen, Bedürfnisse und Interessen.
ZDFheute: Wenige sein könnte aber doch auch ein Vorteil sein.
El-Mafaalani: Ja, rein theoretisch könnte man die Annahme vertreten, wenige Kinder würden umso besser gefördert. Und intuitiv halte ich das auch erstmal für plausibel. Wir messen aber genau das Gegenteil. Unsere These ist, dass Kinder, weil sie eine kleine Gruppe sind, leicht übersehen werden.
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ZDFheute: In Ihrem Buch "Kinder - Minderheit ohne Schutz", das Sie zusammen mit Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier geschrieben haben, machen Sie Lösungsvorschläge. Zum Beispiel fordern Sie, dass Schulen nicht nur Lernorte, sondern auch Lebensorte werden. Warum?
El-Mafaalani: Schulkinder verbringen heute mehr Zeit in der Institution Schule als mit ihren Eltern. Dort findet, mehr als früher, Kindheit statt. Das bedeutet, dass dort mehr als Wissensvermittlung stattfinden muss: Sport, Musik, Kunst und Kultur, Botanik und vieles mehr.
Alles, was in unserer Gesellschaft eine Rolle spielt, muss erfahrbar sein in den Bildungsinstitutionen.
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Aladin El-Mafaalani
Hinzu kommt: Wenn beide Eltern zunehmend berufstätig sein müssen, weil es ökonomisch nicht reicht, und die Erwerbsquote von Eltern hochgehalten werden muss, weil immer mehr Babyboomer in Rente gehen, dann müssen Bildungsinstitutionen mehr sein als Lernorte. Schulen und Kitas müssen ein Stück weit Familie ersetzen.
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ZDFheute: Stellt sich die Frage, wer die damit einhergehenden Aufgaben, wie Betreuung und Wissensvermittlung, übernehmen soll. Sie sagen, die Generation der "Babyboomer", der geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt in Rente gehen. Warum?
El-Mafaalani: Aus drei Gründen: Erstens, weil es sehr viele sind. Wenn diese Generation jetzt einfach in den Ruhestand geht und sich nicht mehr engagiert für andere gesellschaftliche Bereiche, dann glaube ich nicht, dass es überhaupt funktionieren kann.
Zweitens, weil es die gesündeste, körperlich und kognitiv fitteste Rentnergeneration sein wird, die wir jemals hatten.
Die Babyboomer sind nicht so weit weg von den Themen der Jüngeren wie vergangene Seniorengenerationen. Die Forschung zeigt, dass sich das Verhältnis zwischen Enkelkindern und Großeltern immer weiter verbessert und intensiviert.
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Aladin El-Mafaalani
Großeltern passen sich Kindern an, zum Beispiel indem sie ihre Kommunikationsmedien verwenden, um in Kontakt zu bleiben.
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Drittens, weil auch die künftige Seniorengeneration vor großen Herausforderungen steht. Dazu gehört Altersarmut. Ich erwarte nicht, dass sich die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner völlig kostenfrei und ehrenamtlich engagieren. Wer sich verlässlich engagiert, soll durchaus honoriert werden.
Quelle: Imago
... ist Soziologe und Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Sein aktuelles Sachbuch "Kinder - Minderheit ohne Schutz", das er zusammen mit den Soziologen Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier geschrieben hat, ist für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. El-Mafaalani ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.
ZDFheute: Sehen Sie eine Schuldigkeit der älteren Generation gegenüber der jüngeren sich für sie zu engagieren?
El-Mafaalani: Ich würde sagen, es gibt eine Notwendigkeit, aus der sich eine gewisse Verantwortung ableitet. Durch die demografischen Verschiebungen entstehen Lücken.
Auskömmliche Renten und ein würdevolles Altern werden große Herausforderungen. Das wird nicht gelingen, wenn Seniorinnen und Senioren sich nicht stärker engagieren.
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Aladin El-Mafaalani
Außerdem glaube ich, dass wir noch nicht so richtig reflektiert haben, dass wir der heutigen Kindergeneration einen Riesenhaufen ungelöster gesellschaftlicher Probleme hinterlassen: vom Klimawandel über weltpolitische Probleme bis hin zu Fragen, wie wir den Staat weiter finanzieren, den Haushalt, die Renten.
Das ist kein Vorwurf. Wir müssen uns nur klar darüber sein: Wir geben all das an eine Generation weiter, der es gerade nicht gut geht.
Das Interview führte Luisa Houben, Reporterin im ZDF-Studio in Baden-Württemberg.
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