Hungersnot in Gaza: Warum sie noch nicht ausgerufen ist

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Kriterien für Nahrungskrise:Gaza: Warum noch keine Hungersnot ausgerufen ist

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Obwohl in Gaza die Menschen seit langem unter Mangel an Nahrungsmitteln leiden, sagen Politiker und UN eine Hungersnot stünde bevor. Warum sie (noch) nicht ausgerufen ist.

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Wann spricht man von einer Hungersnot?

Die Ausrufung einer "Hungersnot" basiert auf streng festgelegten Kriterien, die von Experten der 2004 gegründeten IPC-Initiative (Integrated Food Security Phase Classification) definiert wurden. Die Kriterien sind international anerkannt und gelten für die Analyse und Bewertung von Nahrungskrisen weltweit.
In dieser IPC-Skala gibt es fünf Stufen zur Einordnung der Ernährungslage in einem Land oder einer Region. Die allerhöchste - und schlimmste - ist Stufe 5. Sie heißt "Katastrophe/Hungersnot". Darunter spricht man von "Hungerkrisen".
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Wann wird eine Hungersnot ausgerufen?

Laut IPC wird eine Hungersnot ausgerufen, wenn drei Kriterien gleichzeitig erfüllt sind:
  • mindestens 20 Prozent der Haushalte sind von extremem Lebensmittelmangel betroffen
  • mindestens 30 Prozent der Kinder leiden unter akuter Mangelernährung
  • täglich sterben mindestens zwei Erwachsene oder vier Kinder pro 10.000 Einwohner entweder an Hunger oder aufgrund des Zusammenspiels von Unterernährung und Krankheit.





Warum wird im Fall von Gaza noch nicht von einer Hungersnot gesprochen?

Gerade in Kriegs- und Krisengebieten ist die Erhebung unabhängiger Daten - wie über die Versorgungslage, über Sterblichkeitsraten und Gesundheitslage - oft nicht oder nur eingeschränkt möglich. In manchen Fällen versuchen auch Staaten oder Konfliktparteien, eine Hungerkrise herunterzuspielen, um Kritik oder Konsequenzen zu vermeiden.
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Im Gazastreifen erheben elf Mitarbeitende der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) Daten für die IPC. Aktuell fehlen jedoch, aufgrund der eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten und der von der Hamas kontrollierten Behörden, unabhängige, umfassende Daten.

Wie stuft die IPC die Lage in Gaza derzeit ein?

Aktuell gilt für den gesamten Gazastreifen Stufe vier auf der IPC-Skala ("Emergency/Notfall"). Das bedeutet unter anderem, dass nach IPC-Einschätzung viele betroffene Menschen nicht genug zu essen haben und unter akuter Unterernährung leiden, was auch zu einer überhöhten Sterblichkeit führt. Auch in dieser Phase ist laut IPC Nothilfe mit Nahrungsmittellieferungen nötig.
Die IPC-Experten warnten diese Woche, dass im gesamten Gazastreifen die ersten beiden Kriterien für eine Hungersnot zumindest in Teilen bereits erfüllt werden: extremer Mangel an Nahrungsmitteln praktisch in den meisten Teilen des Gazastreifens und akute Unterernährung in Gaza-Stadt.
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Laut IPC-Angaben müssen aktuell 39 Prozent der Bewohner teils mehrere Tage ohne eine einzige Mahlzeit auskommen. Mehr als eine halbe Million Menschen, also fast ein Viertel der Bevölkerung, erlebe bereits "hungersnot-ähnliche Bedingungen."

Wer ruft eine Hungersnot aus?

Die offizielle Ausrufung liegt "in der Verantwortung entweder der Regierung und des Staates selbst oder von autorisierten Institutionen" wie etwa UN-Vertretern, erklärt ein ranghoher FAO-Vertreter, Abdulhakim Rajab Elwaer, der Deutschen Presse-Agentur.
Zwischen der IPC und einer möglichen offiziellen Deklaration einer Hungersnot steht das sogenannte Famine Review Committee (FRC). Es besteht aus unabhängigen Experten, die einberufen werden, um die Daten und Einschätzungen der IPC zu prüfen.
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Auf dieser Grundlage können sie eine Empfehlung abgeben. UN-Vertreter etwa können daraufhin eine Hungersnot öffentlich ausrufen - auch wenn betroffene Regierungen das oft nicht anerkennen, wie Elwaer sagt.

Was bringt die Ausrufung einer Hungersnot?

Die Ausrufung hat einen psychologischen Effekt: Manche Regierungen und Organisationen treten erst richtig in Aktion, wenn eine offizielle Erklärung vorliegt - obwohl die Anzeichen längst da sind. Damit werden mehr Gelder zur Unterstützung frei. In Bezug auf Gaza sei eine formelle Ausrufung "extrem notwendig", erklärt Elwaer.
Die Ausrufung habe aber einen weiteren Effekt: "Es ist eine direkte Anschuldigung", so Elwaer. Eine offizielle Ausrufung durch die IPC-Partner werde gewertet wie ein gemeinsames Urteil der internationalen Gemeinschaft. Sie könne auch als Grundlage für Schritte des Internationalen Gerichtshofs, des UN-Sicherheitsrats oder einzelner Staaten dienen - etwa für Sanktionen oder politischen Druck.
Quelle: dpa, ZDF
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