Analyse
100 Tage Schwarz-Rot:Glanz auf der Weltbühne, verknotet im Kleinen
Schwarz-Rot wollte viel Großes, verlor sich aber oft im Kleinen. Höchste Zeit, dass die Merz-Klingbeil-Koalition die Reformen anpackt, wie sie es vor 100 Tagen versprochen hatte.
Einen Aufbruch und geräuschloses Regieren - das haben Kanzler Merz und die neue Bundesregierung bei ihrem Start versprochen. Wo steht Schwarz-Rot nach den ersten 100 Tagen?13.08.2025 | 3:18 min
Er kehrte nach langer Auszeit zurück auf die politische Bühne, übernahm die Macht. Er versprach, das Land spürbar zu verändern: Vieles sollte einfacher werden für die Menschen, die Verfassung schlanker, liberaler. Doch weil ihn Kriege in der Welt draußen so beanspruchten, schaffte er es drinnen nicht, die versprochenen Reformen durchzusetzen.
Was nach einem Déjà-vu klingt, wie über den Kanzler von
Schwarz-Rot, beschreibt die allerersten "Hundert Tage", die historisch wurden und nach denen dann später die 100-Tage-Bilanzen weltweit bezeichnet worden sind.
6. Mai: Merz scheitert im ersten Wahlgang - so lief der Tag damals.06.05.2025 | 3:01 min
Am 1. März 1815 war Napoleon Bonaparte aus dem Exil zurückgekehrt, womit niemand gerechnet hatte. Er wollte seinem Frankreich und ganz Europa noch mal zeigen, wie gutes Regieren geht.
Die vielen Ankündigungen von Schwarz-Rot
Als 210 Jahre später
Friedrich Merz am 6. Mai 2025 Deutschlands Regierung übernahm, war der Anspruch ebenfalls hoch. Der frisch vereidigte Kanzler sparte nicht mit Pathos, sprach von der "letzten Chance" für die Demokratie. Seine Union wolle gemeinsam mit der
SPD als die großen staatstragenden Parteien der Bundesrepublik das Land vor dem Abstieg retten.
"Wir werden jetzt mit der Arbeit beginnen", sagte Merz am Abend seiner leicht verunglückten Wahl zum Bundeskanzler. Ganz oben auf der To-do-Liste: die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands wiederherstellen.
Die ersten 100 Tage der Bundesregierung stoßen in der Wirtschaft auf ein "geteiltes Echo", berichtet Sina Mainitz. Kritisiert werde etwa, dass es weiterhin zu viel Bürokratie gebe.13.08.2025 | 1:19 min
"Investitions-Booster", "Stromsteuer runter", "Bürokratie abbauen", waren die Sofort-Versprechen für die ersten 100 Tage, wenn auch alles "unter Finanzierungsvorbehalt" stehe. Hinzu wurde von "Wohnungsbau-Turbo" über "Grenzen schließen" bis hin zu "Wölfe jagen" allerlei mehr angekündigt.
Im Juni beschließt das Bundeskabinett milliardenschwere Steuerentlastungen für Unternehmen.04.06.2025 | 2:26 min
Merz macht vor allem Außenpolitik
Erste Schlagzeilen machte Merz dann jedoch als Außenkanzler und galt weithin als geopolitisch in Ordnung. Im
Sonderzug nach Kiew zeigte er, dass Europa mit ihm wieder eng zusammensteht. Er glänzte auch bei seinem Antrittsbesuch bei US-Präsident
Donald Trump im Oval Office, weil er dort nicht vorgeführt wurde wie andere vor ihm in dieser Manege eines unberechenbaren Zirkusdirektors.
Dort übrigens, im Weißen Haus, hatte einst Präsident Franklin D. Roosevelt die Medien gebeten, ihm eine Schonfrist von 100 Tagen zu geben. 1933 war das, und die US-Wirtschaft in großer Depression. Roosevelt versprach staatlichen Umbau, einen "New Deal", für den er gewaltig Schulden aufnahm, um Infrastruktur und Industrie wieder anzukurbeln.
Ebenfalls im Juni reist Merz zu seinem Antrittsbesuch zu US-Präsident Trump.05.06.2025 | 88:43 min
Wo die Koalition im Klein-Klein hängenblieb
Auch Merz und sein Koalitionär
Lars Klingbeil handelten auf ihre Weise ähnlich. Auch sie wollten die ersten 100 Tage Schonfrist nutzen für Grundlegendes. Die Schuldenbremse hebelten sie teilweise so aus, dass Deutschland bis 2029 mehr als 850 Milliarden Euro aufnehmen kann - für Infrastruktur und Rüstung.
Doch beim Umbau des Sozialstaats sind sie im Klein-Klein hängengeblieben. Rente mit 70 durfte nur eine Idee sein, wie auch die Kürzung des jährlich fast 50 Milliarden teuren Bürgergelds.
Nun sollen erst einmal Kommissionen über Reformen der sozialen Sicherungssysteme beraten - bis ins Jahr 2027 hinein, wo schon der nächste Wahlkampf alles lähmen könnte. Stattdessen sind schon beschlossen: höhere Mütterrente, niedrigere Umsatzsteuer für Gastronomen und mehr Pendlergeld.
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Ein Manko: Mangelnde Kommunikation
Verknotet und zerfranst hat sich diese "Große Koalition" im ganz Kleinen. Und das lag in allen Fällen an mangelnder Kommunikation untereinander.
Stromsteuer, Richterstreit, Sanktionen gegen Israel. Nichts davon wurde - allen voran vom Kanzler - vernünftig abgesprochen und sauber eingestielt, bevor die Entscheidung verkündet wurde. Merz agierte zwar nicht wie ein Napoleon, doch wie ein CEO, der einsame Entscheidungen trifft.
Aber noch ist ja Zeit, es sind erst 100 Tage um. Da hatte Napoleon - allerdings ohne jede Schonfrist auf dem Schlachtfeld - seine "letzte Chance" schon vertan. Am 15. Juni 1815 wurde er final geschlagen, in Waterloo. Von da an waren die "Cents Jours", war die "Herrschaft der Hundert Tage" Geschichte.
Wulf Schmiese ist stellvertretender Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios.