Interview
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Ärzte ohne Grenzen in Gaza:Pflegerin: "Brauchen einen Waffenstillstand"
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Die humanitäre Lage in Gaza verschlechtert sich. Katja Storck ist Notfallpflegerin für Ärzte ohne Grenzen. Über ihre Erfahrungen und die medizinische Versorgungslage vor Ort.
Die humanitäre Lage in Gaza bleibt dramatisch. Eine Notfallpflegerin der Ärzte ohne Grenzen berichtet über die Versorgungslage vor Ort.
Quelle: Jehad Alshrafi
ZDFheute: Frau Storck, Sie arbeiten aktuell für Ärzte ohne Grenzen in einem Krankenhaus im Gazastreifen. Wie erleben Sie die Situation?
Katja Storck: Ich bin seit Anfang Mai in Gaza, also seit ziemlich genau sechs Wochen. In dieser Zeit hat sich die Situation dramatisch verschlechtert. Nach dem Bruch des Waffenstillstandes und der Blockade sämtlicher Hilfsgüter ist fast nichts mehr übrig von dem, was die Hilfsorganisationen an Materialien hineingebracht haben. Das heißt, wir sind momentan dabei, unseren kompletten Emergency-Stock sozusagen aufzubrauchen.
In unserem Krankenhaus haben wir viele junge Patienten, auch viele Kinder, die nach Bombenangriffen in unser Krankenhaus eingeliefert werden. Da wäre zum Beispiel eine junge Frau, die gerade 18 Jahre alt geworden ist und eigentlich mit der Universität anfangen wollte. Sie wollte Ingenieurin werden. Sie hat in einem Bombenangriff einen Teil ihrer Familie verloren. Beide Beine mussten amputiert werden, oberhalb des Knies. Sie hat zusätzlich viele innere Verletzungen, war am Anfang in einem sehr kritischen Zustand. Inzwischen ist sie stabiler, aber natürlich schwer verletzt.
Ihre Verletzungen werden Monate bis Jahre brauchen, um zu heilen.
Quelle: Ärzte ohne Grenzen
ist Notfallpflegerin bei Ärzte ohne Grenzen. Sie war bereits im Osten der Ukraine und in der Westbank stationiert. Seit mehreren Wochen ist sie nun in einer medizinischen Einrichtung in Deir al Balah im Gazastreifen im Einsatz.
ZDFheute: Wohin gehen diese Menschen, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen werden und kein Zuhause mehr haben, weil die israelische Armee es bombardiert hat?
Storck: Zelte. Die meisten Menschen leben inzwischen in Zelten, auch die meisten unserer Kollegen - was natürlich zu noch viel mehr Problemen, gerade auch medizinischen, führt.
Es ist sehr eng, Krankheiten übertragen sich sehr schnell.
Viele Patienten, gerade Kinder, haben Hautkrankheiten, Krätze und so weiter, Durchfallerkrankungen, weil es nicht genügend sauberes Wasser gibt. Und Menschen dann dementsprechend entweder das Meerwasser trinken oder irgendwelche Abwässer. Nach über anderthalb Jahren Bombardierung ist natürlich auch das komplette Abwassersystem, sind alle Systeme kaputt oder kaum noch funktionsfähig. Und dementsprechend sieht man auch einen sehr starken Anstieg an Erkrankungen.
ZDFheute: Wie schaffen Ihre palästinensischen Kolleginnen und Kollegen es, trotz persönlicher Betroffenheit auch noch medizinische Hilfe zu leisten?
Storck: Ehrlicherweise frage ich mich das jeden Tag. Also jeden Tag bin ich überrascht und überwältigt, mit welcher Motivation und mit welchem Eifer unsere Kollegen täglich zur Arbeit kommen, in dem Wissen, dass sie die Nacht in einem Zelt geschlafen haben, wenn sie überhaupt geschlafen haben, aufgrund der lauten Bombardierungen.
Viele unserer Kollegen sind mehrfach vertrieben worden, vom Süden in den Norden und wieder zurück.
Sie haben Familienangehörige verloren, enge Familienangehörige verloren, Eltern, Geschwister, Kinder. Und trotzdem: Sie nehmen ein paar Tage frei und dann kommen sie wieder zur Arbeit und sagen: Erstens, was soll ich sonst machen? Und zweitens: Das ist das, was ich für mein Volk, für alle Menschen hier tun kann. Ich kann zur Arbeit gehen und mein Bestes geben, um den Patienten zu helfen, um meiner Gemeinschaft zu helfen, um zu überleben.
ZDFheute: Was würden Sie sich von politisch Verantwortlichen in Deutschland wünschen?
Storck: Wir brauchen einen Waffenstillstand, einen Waffenstillstand, der anhält. Wir brauchen Medikamente, Essen, Hilfslieferungen in dem Ausmaß, wie es sie vorher gab, vor dem Krieg, um überhaupt erstmal wieder den Vorrat auffüllen zu können, um überhaupt weiterarbeiten zu können.
Aber das für mich Wichtigste ist, zu erkennen, dass es ganz normale Menschen sind, die hier leben.
Ganz normale Menschen, so wie Sie und ich, die vorher ein normales Leben geführt haben. Ärzte waren, Krankenschwestern, Lehrer, die Friseure waren, die Lebensmittelgeschäfte hatten, Bekleidungsgeschäfte, in einem Restaurant gearbeitet haben. Ganz normale Menschen, die es verdient haben, in Frieden zu leben, die es verdient haben, dass sämtliche Menschenrechte, die wir überall auf der Welt anwenden auch für sie angewendet werden.
Das Interview führte ZDF-Reporterin Homeira Rhein.
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