Gaza: Warum scheut die Bundesregierung Kritik an Israel?
Interview
Nahost-Experte Daniel Gerlach:Gaza: Warum scheut Berlin Kritik an Israel?
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Daniel Gerlach kritisiert die Haltung der Bundesregierung gegenüber Israel. Er fordert klare Worte zu den Kriegsverbrechen in Gaza und warnt vor der rechten israelischen Regierung.
Die Bilder von schwer verletzten und hungernden Kindern erschüttern und die Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen wächst: Der israelischen Armee werden massive Kriegsverbrechen vorgeworfen.17.06.2025 | 8:17 min
Frontal: Herr Gerlach, Bundeskanzler Merz hat kürzlich Israel, für viele überraschend, öffentlich kritisiert. Was in Gaza passiere, so Merz, das sei mit Selbstverteidigung nicht mehr zu rechtfertigen. Sehen Sie das als einen Kurswechsel der Bundesregierung an?
Daniel Gerlach: Nein, ich sehe das nicht als einen Kurswechsel an, denn das würde bedeuten, dass er politische Konsequenzen hat und nicht nur rhetorisch ist.
Ich habe derzeit nicht den Eindruck, dass Bundeskanzler Merz bereit ist, auch politisch etwas in die Waagschale zu werfen, um dieses Verhalten, das er kritisiert, auch zu verändern.
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Daniel Gerlach, Nahost-Experte
Während sich die humanitäre Krise im Gazastreifen zuspitzt, startet Israel erneut eine Offensive. Warum Israel kaum Konsequenzen drohen, analysiert ZDFheute live.20.05.2025 | 36:42 min
Frontal: Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagfraktion, Jürgen Hardt, antwortete auf unsere Frage, ob Israel in Gaza Kriegsverbrechen begehe, dass er das aus der Ferne nicht beurteilen könne. Ist diese Position zu halten angesichts dessen, was wir täglich hören und sehen in Gaza?
Gerlach: Ich sehe eine Tendenz dazu, dass man immer dann, wenn man sich zu einem Thema nicht äußern möchte, weil es einem unangenehm ist, anfängt, das Ganze zu legalisieren. Indem man sagt, das sind juristische Fragen, die ich als Politiker oder als Journalist oder als Privatperson nicht beantworten kann. Kriegsverbrechen müssen zwar juristisch beurteilt werden, aber sie können auch mit gesundem Menschenverstand beurteilt werden.
In dem Moment, wo es so häufig vorkommt, wie es dokumentiert ist, denke ich, kann man davon sprechen, dass es ein systemisches Problem ist. Da können Politiker nicht sagen, ich weiß nicht, ob das ein Kriegsverbrechen ist oder nicht. Das Vorkommen von Kriegsverbrechen ist nach meinem Dafürhalten vollkommen unstrittig.
... ist Chefredakteur des Nahost-Fachmagazins "zenith" und Direktor der Denkfabrik Candid Foundation. Gerlach studierte Geschichte und Orientalistik in Hamburg und Paris.
Frontal: Wie sollte sich die Bundesregierung denn Ihrer Meinung nach gegenüber Israel verhalten?
Gerlach: Ein entscheidender Schritt ist, dass man in Deutschland in der politischen Klasse zur Kenntnis nimmt, wie das Thema Gaza und die Kriegsverbrechen in Gaza in Israel selber diskutiert werden. Die Frage der Kollektivschuld, die Frage der Rache, die Frage, ob ein Teil der Bevölkerung der Ansicht ist, dass die Palästinenser das verdient haben, was sie erleben.
Im Zuge ihrer neuen Offensive im Gazastreifen hat die israelische Armee nach eigenen Angaben auch einen Einsatz von Bodentruppen gestartet. „Kritische Worte reichen hier nicht. Man muss politische Konsequenzen ziehen“, so Nahost-Experte Daniel Gerlach.19.05.2025 | 4:34 min
Aber auch die Stimmen von Soldaten, von verantwortlichen Personen, von ehemaligen Ministerpräsidenten und Politikern, die von Kriegsverbrechen sprechen, die unter Umständen sogar von Genozid sprechen.
Ich habe den Eindruck, es wird wahnsinnig viel über Israel geredet in Deutschland, in der politischen Klasse, aber man reflektiert gar nicht, was in Israel selber über dieses Thema gesagt und diskutiert wird und auch in den Medien und in den Zeitungen veröffentlicht wird.
In Gaza sind die Schlangen für Essen lang und manche überleben den Kampf um das nackte Überleben nicht. Auch die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern wird immer schlechter.11.06.2025 | 6:07 min
Frontal: Warum scheut die deutsche Regierung die öffentliche Kritik an Israel?
Gerlach: Ich denke, ein großer Teil der deutschen Politiker und darunter auch Außenpolitiker möchte mit diesem Thema eigentlich nichts zu tun haben, weil es ein kompliziertes Thema ist, weil es aufgeladen ist, weil man es auf israelischer Seite mit extrem gut vorbereiteten und scharf argumentierenden Menschen zu tun hat.
Man hat reflexartig jahrelang die Finger davon gelassen, denn mit dem Thema Israel kann man keine Wahlen gewinnen.
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Daniel Gerlach, Nahost-Experte
Wenn ich mich kritisch äußere, kann ich mich damit nicht profilieren. Und das ist letztendlich auch das Resultat eines Vorurteils, das davon ausgeht, egal ob ich das positiv oder negativ sehe, es gibt da eine jüdische Lobby, es gibt da jüdische Kräfte, die mir schaden würden, wenn ich mich zu diesem Thema offen äußere.
Und das ist letztendlich auch eine Form von Antisemitismus, die davon ausgeht, dass Juden die Macht haben und sich gemeinschaftlich verschworen haben, um den Diskurs zu bestimmen. Das ist nach meinem Dafürhalten einfach nicht der Fall.
Die humanitäre Situation im Gazastreifen bleibt angespannt. Ständige Angriffe und der fehlende Zugang zu dringend benötigten Hilfsgütern belasten die Bevölkerung schwer. 06.06.2025 | 1:20 min
Frontal: Sie haben das mal "sektenhafte Gefolgschaft" gegenüber Israel genannt. Diese Angst, sich tatsächlich kritisch zu äußern und auch Konsequenzen zu ziehen gegenüber einer israelischen Regierung, die ganz offensichtlich Verbrechen im Gazastreifen verübt.
Gerlach: Die Grundhaltung gegenüber Israel hat sich nicht verändert, aber sie hat nicht einbezogen, dass sich Teile der Bevölkerung, insbesondere die Regierung schrittweise in den letzten Jahren dramatisch radikalisiert haben.
Die jetzige israelische Führung bekennt sich nicht mehr zur Zwei-Staaten-Lösung. Viele befürworten die Vertreibung von Palästinensern, sie befürworten kollektive Bestrafung von Palästinensern.
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Daniel Gerlach, Nahost-Experte
Das heißt, in ihren Grundüberzeugungen verstoßen sie gegen grundsätzliche Vereinbarungen, die mal getroffen wurden, um diese Krise zu bewältigen.
Das hat aber die Bundesregierung und letztendlich die deutsche politische Kultur großenteils nicht in Betracht gezogen, sondern sie verhält sich immer noch so, als hätten wir es mit einem Israel zu tun, das vorbehaltlos demokratisch ist, das gemäßigt ist, das Frieden möchte und das den Palästinensern ein Selbstbestimmungsrecht gewährt, was aber mit der derzeitigen politischen Realität nichts zu tun hat.
In Israel gehen mehr und mehr Menschen auf die Straße, um gegen das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza zu demonstrieren.11.06.2025 | 7:10 min
Frontal: Das heißt, eigentlich sollte eine konsequente deutsche Israel-Politik zum Beispiel Palästina anerkennen, so wie das andere Länder auch gemacht haben?
Gerlach: Ja, natürlich, das müsste sie. Ich denke, für Deutschland bietet sich eine Möglichkeit, sich hier konstruktiv zu verhalten, indem man mit anderen europäischen und auch westlichen Staaten, aber auch arabischen Staaten gemeinsam agiert.
Das ist auch eine Forderung, die wir in der arabischen Welt hören. Niemand verlangt von Deutschland, dass es die Führung übernimmt bei politischen Initiativen, die die derzeitige israelische Regierung einschränken, die versuchen Druck auf sie auszuüben.
Es geht darum, dass Deutschland mitzieht und nicht blockiert.
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Daniel Gerlach, Nahost-Experte
Das Interview führte Jörg Brase, Reporter im ZDF-Hauptstadtstudio Berlin.
Israel greift Iran seit Tagen an und begründet das Vorgehen mit dem iranischen Atomprogramm. Iran reagiert mit Gegenschlägen auf Israel. Alle Entwicklungen im Liveblog.