Demokratie in den USA:Verfassungsrechtler: "Kipppunkt überschritten"
Verfassungsrechtler Laurence Tribe sieht die Demokratie in den USA massiv beschädigt. Im ZDFheute-Interview warnt er vor einer autoritären Zukunft - auch unabhängig von Trump.
Die amerikanische Verfassung setzt Präsident Trump Grenzen. Trump versucht das zu umgehen, indem er Notstände erklärt, die seine Befugnisse erweitern. Steht Amerika am Kipppunkt?
07.09.2025 | 4:37 minZDFheute: Donald Trump sagt, er habe das Recht, alles zu tun, was er will, weil er Präsident sei. Wie stellt er damit die Verfassung auf die Probe? Bewegt er die USA damit in Richtung Autoritarismus?
Laurence Tribe: Ich denke, wir haben den Kipppunkt überschritten. Es gibt keine wirksamen Kontrollmechanismen gegenüber der Exekutive mehr. Die Leitplanken halten nicht. Wir haben es mit einem Präsidenten zu tun, der vom Kongress völlig ungebremst ist.
Ein Gericht nach dem anderen untersagt der Trump-Regierung zwar, sich autokratisch zu verhalten. Doch diese Urteile halten ihn nicht auf. Bislang hat Trump zwar noch keinen Beschluss des Supreme Courts offen missachtet. Aber wir sehen, dass der Supreme Court alle gerichtlichen Niederlagen Trumps einfriert und immer häufiger die Entscheidungen unterer Instanzen einfach aussetzt.
... ist Professor Emeritus für Verfassungsrecht an der Harvard University. Er gilt als einer der renommiertesten US-Verfassungsrechtler und berät seit Jahrzehnten Politik und Zivilgesellschaft in Fragen des Rechtsstaats.
Neue Wahlkreise, streng kontrollierte Museen und die Nationalgarde in der Hauptstadt: Präsident Trump sorgt mit seinen Entscheidungen für eine bedenkliche Entwicklung in den USA.
20.08.2025 | 3:04 minZDFheute: Welche Macht haben Gerichtsurteile dann noch?
Tribe: Zu sagen, die Gerichte hätten uns im Ganzen im Stich gelassen, wäre falsch. Aber zu sagen, die Gerichte könnten uns retten, wäre ebenso falsch. Sie setzen Trump keine wirksamen Grenzen.
Die unteren Bundesgerichte - vor allem die Bezirksgerichte - haben sich hervorragend geschlagen. 97 Prozent der Verfahren dort wurden gegen Trump entschieden. Allerdings können wir uns nicht auf sie verlassen, denn am Ende unterliegen sie der Willkür des Supreme Court.
Sechs der neun Richter dort sind ideologisch und persönlich so eng mit dem Präsidenten verbunden, dass sie ihre Funktion schlicht nicht erfüllen.
Dennoch helfen all seine Niederlagen vor Gericht, zumindest in der Öffentlichkeit das Bewusstsein zu schärfen, wie autokratisch und gesetzlos der Präsident geworden ist.
Trump will Truppen in US-Städte schicken. Gegner wie die Gouverneure Newsom und Pritzker warnen vor Diktatur. Doch wo bleibt der Widerstand – und wer könnte ihn anführen?
02.09.2025 | 54:34 minZDFheute: Wie steht es um die Öffentlichkeit und die Opposition?
Tribe: Die Medien haben keinen besonderen Mut bewiesen: Führende Zeitungen wie die "Washington Post" und die "Los Angeles Times" gehören Unternehmen, die sich aus wirtschaftlichem Interesse die Gunst Trumps sichern wollen.
Die meisten Universitäten, denen er gedroht hat, sind eingeknickt und haben im Grunde Lösegeld gezahlt, um Trumps zerstörerische Schritte abzuwenden.
Harvard ist bislang standhaft geblieben, worauf ich stolz bin, aber es ist völlig unklar, wie lange das so bleiben wird.
Die gesamte Zivilgesellschaft gerät allmählich unter seine Kontrolle. Demokratie stirbt nicht in einem einzigen Moment - nach einem Kipppunkt zu suchen ist in gewisser Weise irreführend, weil es so klingt, als sei es wie beim Kochen von Wasser oder beim Gefrieren zu Eis. Es legt nahe, dass es diesen einen Moment gibt, in dem wir eine rote Linie überschreiten. In Wahrheit ist es weniger eine rote Linie als vielmehr eine rote Zone.
Und wir befinden uns bereits tief in dieser Zone.
Ein US-Bundesgericht hat Trumps Streichung von Forschungsgeldern für die Harvard-Universität gekippt. Die Richterin bezeichnete den Vorgang als gezielt ideologisch.
04.09.2025 | 0:23 minZDFheute: Wer kann dem rigorosen Umbau Amerikas noch gegenhalten?
Tribe: Es braucht im Grunde einen umfassenden Ansatz von allen Amerikanern. Alle, die eine Ahnung davon haben, was es bedeutet, unter einer autoritären, despotischen Diktatur zu leben, müssen sich zusammentun und massiv aufstehen - mit Boykotten, friedlichen Märschen, mit organisierten Bürgergruppen, die es ihm schwerer machen, die Zwischenwahlen zu manipulieren. Klar ist:
Es wird sehr viel mehr nötig sein, als wir bisher getan haben.
Die Frage ist: Wie lange wird es dauern, da wieder herauszukommen? Deutschland hat eine schreckliche Phase des Faschismus erlebt. Es hat Jahrzehnte und einen Weltkrieg gebraucht, um wieder in die Gemeinschaft der demokratischen Nationen zurückzukehren. Jetzt müssen wir fragen: Wie hat Deutschland das geschafft?
In den USA sind laut dem Veranstalter mehr als fünf Millionen Menschen unter dem Motto „No King“ gegen US-Präsident Trump auf die Straßen gegangen. Sie werfen ihm eine autoritäre Politik vor.
15.06.2025 | 1:34 minZDFheute: Wird die Republikanische Partei auch ohne ihn so weitermachen? Das "Project 2025" liefert schließlich ein Drehbuch zur Umgestaltung der USA.
Tribe: Dieses Drehbuch ist längst nicht mehr nur ein Plan. Menschen werden von maskierten Männern ohne Verfahren von der Straße verschleppt und zum Verschwinden gebracht. Unzählige Menschen wurden entlassen. Das gesamte öffentliche Gesundheitswesen wird Tag für Tag demontiert.
All das wird uns nur noch einen blassen Schatten von dem hinterlassen, was wir vor Trump hatten.
Ob das Fehlen der Galionsfigur Trump die USA dann plötzlich die Rückkehr ermöglichen wird, ist schwer zu sagen. Diese Institutionen müssen neu aufgebaut werden. Sie wachsen nicht wie von Zauberhand von selbst zurück.
Es ist, als hätte das Feuer in Notre Dame die Kathedrale wirklich bis auf den Grund zerstört.
Ähnlich wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan brauchte, werden die USA - nach dem, was dieser Präsident und seine perverse Regierung bereits angerichtet haben - einen massiven Wiederaufbau leisten müssen.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Aussagen sprachlich geglättet. Auszüge aus dem Gespräch mit Laurence Tribe zeigt das ZDF am 7. September im heute journal.
Mehr zu Donald Trump
- mit Video
- Interview
Politologin Clüver Ashbrook:Trump will Bundesstaaten "auf Linie zwingen"
- mit Video
Trump unterzeichnet Dekret:US-Flagge: Verbrennen wird nun schwer bestraft
- mit Video
Suche nach Regelverstößen:USA überprüfen Millionen Visa-Inhaber