Hungernde Kinder: Wie Gaza-Bilder instrumentalisiert werden
Faktencheck
Hungernde Kinder:Wie Gaza-Bilder instrumentalisiert werden
von Nils Metzger
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Zeigt ein Bild aus Gaza ein chronisch krankes Kind oder Opfer einer Hungersnot? Kritiker und Unterstützer Israels befeuern eine Mediendebatte. Dabei schließt sich beides nicht aus.
Hitzige Debatte um dieses Bild: Zeigt es Auswirkungen der Hungerkrise im Gazastreifen oder die chronische Erkrankung eines Kleinkindes - oder beides?
Quelle: ddp
Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist seit Monaten katastrophal und die Entrüstung über Israels Kriegsführung wächst. Bilder einer Hungerkrise gehen um die Welt - und werden teils zum Werkzeug in einem globalen Kampf um die politische Deutungshoheit über den Gaza-Krieg.
Kaum eine Aufnahme ist so eindrücklich wie das des eineinhalbjährigen Muhammad, ausgemergelt in den Armen seiner Mutter, mit einer Plastiktüte als Windel. Bis auf sechs Kilo sei er wegen der israelischen Blockade abgemagert, heißt es im Beschreibungstext der Bildagentur. Medien weltweit greifen es auf.
Um dieses und weitere Bilder von leidenden Kindern ist ein erbitterter Streit entbrannt: Belegen sie eine Hungersnot in Gaza? Proisraelische Aktivisten und Medien von "Bild" bis "Nius" kritisieren verzerrende Darstellungen. "Es ist eine Kampagne am Laufen, die Israel moralisch vernichten soll", schreibt "Bild". Manche Nutzer in den sozialen Medien nehmen die Debatte um mediale Glaubwürdigkeit zum Anlass, Hunger in Gaza gänzlich zu leugnen.
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Was ist der Vorwurf gegen das Bild?
Die Diskussion dreht sich um die Frage, was ursächlich für den schlechten Zustand des Kindes ist: Hunger oder eine chronische Erkrankung? In ihrer Bildbeschreibung vom 21. Juli verweist die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu, von der viele Medien die Bilder übernommen haben, lediglich auf den Faktor Hunger. Ähnlich nutzten es auch die meisten internationalen Medien von CNN bis zur "Daily Mail".
Der britische Journalist und Israel-Aktivist David Collier stieß jedoch auf einen Arztbrief einer Hilfsorganisation im Gazastreifen aus dem Mai 2025, worin chronische und genetisch bedingte Erkrankungen genannt würden. "Das ist nicht das Gesicht einer Hungersnot. Es ist das Gesicht eines medizinisch gefährdeten Kindes, dessen tragische Situation zur Waffe gemacht wurde", schreibt Collier.
Die Mutter und der dreijährige Bruder wirkten auf anderen Bildern nicht unterernährt, mutmaßt Collier weiter. Viele Internetnutzer und Medien wie "Bild" verweisen auf ihn als zentrale Quelle der Manipulations-Vorwürfe. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) griff die Debatte am Mittwoch in einer Pressemitteilung auf und warnte vor Manipulationsversuchen mit "Fotos von stark abgemagerten Kindern, deren Zustand jedoch offenbar nicht auf die Hungersnot in Gaza zurückzuführen" sei. "Bildredaktion heißt auch Fact-Checking", wird der DJV-Bundesvorsitzende Mika Beuster zitiert.
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Hat der Junge eine schwere chronische Erkrankung?
Den vollständigen Arztbrief, der die Debatte mit auslöste, veröffentlichte Collier nicht, teilt ihn aber nach Anfrage mit ZDFheute. Das Foto zeigt einen zerfledderten, handschriftlichen Zettel mit dem Logo einer palästinensischen Organisation, oben rechts ist der Name des Kindes zu lesen. Nicht alle Details des Schreibens können unabhängig verifiziert werden.
Tatsächlich nennt der Brief den Befund "Zerebralparese aufgrund Hypoxämie-Insult und in Verbindung stehender genetischer Störung". Weiter heißt es dort aber auch: "erhebliche Unterernährung (…) mit Verschlechterung des Allgemeinzustandes und der Entwicklung." Und:
Patient benötigt Nahrungsergänzung in jeder verfügbaren Form.
„
Auszug aus dem Arztbrief
Im gleichen Arztbrief, der als Beleg für eine chronische Erkrankung als Ursache herangezogen wird, wird also auch eine akute Unterversorgung explizit genannt.
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Was sagt der Fotograf zu den Vorwürfen?
Inzwischen existieren von Muhammad eine ganze Reihe an Fotos und Videos verschiedener Journalisten, die Mutter gab mehrere Interviews. Die ursprünglichen Aufnahmen, die um die Welt gingen, stammen vom palästinensischen Fotografen Ahmed al-Arini. Als Freiberufler arbeitet er für verschiedene Agenturen und dokumentiert das Leid in Gaza auch auf Instagram für über 150.000 Follower.
Der palästinensische Fotojournalist Ahmed al-Arini hat das fragliche Foto aufgenommen.
Quelle: ddp
Manipulationsvorwürfe weist er gegenüber ZDFheute zurück. "Wir arbeiten ehrlich und unterschlagen nichts", schreibt al-Arini über WhatsApp. Mit den Bildern wolle er dazu beitragen, Israels Vorgehen zu stoppen.
Al-Arini leitet auch ein Statement der Mutter Hadaia weiter, worin sie bestätigt, dass ihr Sohn eine chronische Erkrankung habe, eine erfolgreiche Therapie in der Vergangenheit Symptome aber lindern konnte. Aufgrund des Mangels an Essen und Medikamenten habe sich sein Zustand während der letzten zwei Monate verschlechtert. Die Familie musste aus dem Lager Dschabaliya fliehen und lebt nun in einer improvisierten Unterkunft. Ein Foto aus der Zeit davor zeigt den Jungen mit volleren Gesichtszügen.
Wie bewerten Ärzte das Erscheinungsbild des Kindes in den Agenturfotos? Benjamin Ondruschka, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, schreibt ZDFheute: "Man sieht ein schwer unterernährtes und exsikkiertes [ausgetrocknetes, d. Red.] Kind, charakteristisch sind die halonierten Augen, sichtbar werdende Gefäße am Kopf, eine greisenhafte Fazie, Emportreten der knöchernen Strukturen."
Ob dies auf eine Mangelernährung zurückzuführen ist, liegt zwar sehr nahe, aber ist objektiv nur durch Bilder und ohne Krankenunterlagen und Gewichtsprotokolle (...) nicht eindeutig zu differenzieren von einer krankhaften Gedeihstörung.
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Prof. Benjamin Ondruschka, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Bereits ein Gewicht von neun Kilogramm wäre für einen Jungen in diesem Alter sehr niedrig, erklärt Ondruschka weiter. Ein Verlust auf sechs Kilogramm wäre "ein lebensgefährlicher Zustand".
Nach Einschätzung der meisten internationalen Hilfsorganisationen und Experten herrscht im Gazastreifen derzeit eine durch das israelische Vorgehen ausgelöste Hungersnot. Die israelische Regierung weist das zurück; noch am Sonntag sagte Premier Benjamin Netanjahu, es gebe "keine Hungersnot in Gaza".
Für Kai Ambos, Professor für Völkerrecht an der Universität Göttingen, ist die Lage eindeutig: "Es ist ziemlich zynisch zu behaupten, es gebe keine Hungersnot. Es gab selten einen so klaren Fall. Eine Hungersnot liegt nicht erst dann vor, wenn Menschen tatsächlich sterben, also verhungern."
Israel habe die effektive Kontrolle über den Gazastreifen. "Entsprechend muss es als Besatzungsmacht eigentlich die Bevölkerung selbst aktiv versorgen, zumindest muss es aber Hilfsgüter von Dritten hereinlassen - entsprechend aller Notwendigkeiten." Dabei müssten auch die besonderen Bedürfnisse etwa von Babys berücksichtigt werden.
Muhammad kein Einzelfall: Weitere Bilder in der Kritik
Im Fall des Kleinkinds Muhammad ist die Lage also komplex: Es gibt eine chronische Erkrankung, die in ersten Medienberichten nicht als Kontext erwähnt wurde. Die "New York Times" etwa ergänzte ihre Berichterstattung am Dienstag mit einem Hinweis auf die Vorerkrankung. Für manche Unterstützer des israelischen Vorgehens ist all das willkommener Anlass, um die Berichterstattung über Hunger im Gazastreifen insgesamt anzugreifen. Dabei gibt es ebenso Anhaltspunkte, dass sich der Zustand des Kindes erst durch Mangelversorgung kürzlich so verschlechtert hat. Derweil sehen sich in den sozialen Medien beide Seiten in ihren jeweiligen Deutungen der Bilder bestätigt.
Und es gibt weitere Fälle - etwa in Italien. Die Tageszeitung "Il Fatto Quotidiano" veröffentlichte das Foto eines zweiten extrem untergewichtigen Jungen auf ihrer Titelseite, um damit die Hungerkrise zu verdeutlichen. Doch laut israelischer Militärverwaltung halte sich das Kind schon seit Wochen zur Behandlung einer genetischen Krankheit in Italien auf. Israelische Regierungsaccounts warfen dem Medium Falschdarstellungen und Antisemitismus vor - das bekräftigte am Dienstag seine Kritik: "Seine schnelle Genesung in Italien zeigt, dass sein Zustand mit angemessener Versorgung und einem Krankenhaus hätte verbessert werden können."
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Hilfsorganisationen sehen sich unter Druck
Die Debatte rund um die Glaubwürdigkeit von Hunger-Bildern hat konkrete Auswirkungen, auch für Hilfsorganisationen. Sie sehen sich mit Anschuldigungen konfrontiert, den Ernst der Lage zu übertreiben. "Wir beobachten seit einigen Monaten, dass es bei Facebook vermehrt zu Kommentaren unter unseren Anzeigen zu unserer Arbeit in Gaza kommt. In diesen Kommentaren werden unsere Arbeit und Neutralität in Frage gestellt und bezweifelt, dass es Hunger in Gaza gibt", teilt die Welthungerhilfe ZDFheute mit.
Eine Behauptung: Es könne keinen Hunger geben, weil man auf Bildern auch normal- oder übergewichtige Menschen sehe. "Unterernährung ist nicht immer sofort sichtbar, vor allem bei Kleidung, die den ganzen Körper bedeckt. Viele Kinder, Alte, Kranke oder andere besonders Bedürftige, die besonders unter Unterernährung leiden, machen sich nicht auf den Weg zu Verteilungen", entgegnet eine Sprecherin der Hilfsorganisation. "Grundsätzlich sehen wir, dass die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen weltweit stärker unter Druck gerät."
Israels Armee geht seit dem Terrorangriff der Hamas militärisch im Gazastreifen vor - die Verhandlungen in Katar über eine Waffenruhe wurden abgebrochen. Die Entwicklungen im Blog.